Jungen in Kindertagesstätten 
Frauen in der Arbeit mit Jungen: 
Forschung und Fortbildung

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Jungen in Kindertagesstätten  - Frauen in der Arbeit mit Jungen: Forschung und Fortbildung

 

Tim Rohrmann
Tuckermannstraße 3,  D-38118 Braunschweig, 
fon/fax ++49 531 504200

e-mail: Tim.Rohrmann(AT)t-online.de

In den letzten Jahren kam es zu einem wachsenden Interesse an Fragen der Jungenentwicklung und zur Suche nach neuen Formen der pädagogischen Arbeit mit Jungen. Vor diesem Hintergrund führten wir von 1994 bis 1996 eine empirische Untersuchung zum Thema „Manns-Bilder– Jungen in Kindertagesstätten“ durch (Leitung Prof. Peter Thoma, Mitarbeiter Werner Baumgärtel, Bernd Gimborn, Tim Rohrmann). Die Idee, ein Forschungsprojekt zu Jungen in Kindertagesstätten durchzuführen, ergab sich zum einen aus der großen Bedeutung, die den ersten Lebensjahren für die weitere Entwicklung beigemessen wird, zum anderen daraus, daß ein wichtiger Teil dieser Lebenszeit nicht in der Familie verlebt wird, sondern in öffentlichen Einrichtungen der Kinderbetreuung. Dabei ging es uns darum, die mit einem Forschungsprojekt verbundenen Chancen zu nutzen und neue Erkenntnisse in die Praxis zurückzutragen. Daher gehörte die Entwicklung eines Konzepts für die Fortbildung von Erzieherinnen und Erziehern zu den ursprünglichen Zielen des Projektes.

Ein wesentliches Problem in der Entwicklung von Jungen (und Mädchen!) ist der Mangel an männlichen Bezugspersonen in der Erziehung von kleinen Kindern. Die sich daraus ergebende Forderung Mehr Männer in die Kindertagesstätten! hat jedoch weitreichende gesellschaftspolitische Folgen, deren Preis jetzt und in absehbarer Zeit nur wenige zu zahlen bereit sind. Sie setzt eine gesellschaftliche Neubewertung der Tätigkeiten von Mann und Frau voraus und verlangt von Männern (und Frauen!) neue Orientierungen. Die politische Forderung nach mehr Männern im Erziehungsbereich ist daher ein Fernziel. Im Alltag der Kindertagesstätten werden Jungen jedoch weiterhin mit Frauen zu tun haben – und Frauen mit Jungen. Vor diesem Hintergrund erschien es sinnvoll, die Situation von Jungen und Erzieherinnen in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses zu stellen; aus dieser Situation ergibt sich auch die für uns manchmal paradoxe Situation, als Männer im Interesse der Jungen Fortbildungen für Frauen zu entwickeln und durchzuführen.

 

Forschungsprojekt „Manns-Bilder“ – Jungen in Tageseinrichtungen für Kinder

Unser Forschungsprojekt verstand sich als Beitrag zur Geschlechterforschung aus Männersicht. Dabei konnte kaum auf bereits vorliegende Untersuchungen und Praxisansätze zurückgegriffen werden. Im Kindertagesstättenbereich wurden geschlechtsbezogene Fragen bisher wenig thematisiert. Insofern hatte das Projekt in vielen Teilen den Charakter einer „Pilotstudie“.

In einem Projektzeitraum von knapp zwei Jahren (1. 3. 1994 bis 31. 1. 1996) wurde in Kooperation mit sechs Tageseinrichtungen für Kinder und drei Fachberatungen versucht, Antworten auf Fragen zur Identitätsentwicklung von Jungen, insbesondere zum Stellenwert aggressiver Handlungen, zu finden. Dabei wurde vor allem mit den vor Ort tätigen ErzieherInnen zusammengearbeitet.

Im theoretischen Teil des Forschungsprojekt wurden für die Fragestellung wichtige Ergebnisse von Entwicklungspsychologie und Sozialisationsforschung umfassend dargestellt und der aktuelle Forschungsstand zum Thema dokumentiert. Dies wurde in überarbeiteter Form auch in das weiter unten vorgestellte Handbuch mit aufgenommen.

Zentrum und Thema der empirischen Erkundungen war einerseits das „Manns-Bild“ von Jungen und ihre Situation in einer von Frauen dominierten Lebenswelt, andererseits die Alltagssituation von Erzieherinnen und ihre Sichtweise von Jungenverhalten. Das Vorhaben wurde in drei Teilvorhaben gegliedert, die sich der Thematik auf unterschiedliche Weise näherten: aus der Sicht der Untersucher, der Erzieherinnen und der Jungen selbst. Schriftliche und Video-Beobachtungen des Alltags von Jungen und Erzieherinnen sollten einen Blick von „außen“ ermöglichen (Teilvorhaben I). Einzel- und Gruppeninterviews mit Erzieherinnen dienten dazu, die Wahrnehmungen und Umgangsweisen der Erzieherinnen zu erkunden (Teilvorhaben II). Mit einem Malprojekt wurde schließlich versucht, einen Zugang zum Erleben der Jungen selbst zu finden (Teilvorhaben III).

In allen Teilvorhaben wurde deutlich, daß es ein typisches „Jungenverhalten“ und typische „Themen“ von Jungen gibt. Im Vordergrund stehen dabei Bewegung und Aktivität, traditionelle Symbole von Männlichkeit sowie körperliche Auseinandersetzungen und Kampf. Dies wird vor allem bei den älteren Jungen (5-6 Jahre) deutlich und ist situationsabhängig. Andererseits wurde auch die große Vielfältigkeit (und manchmal Widersprüchlichkeit) des Verhaltens von Jungen sichtbar: „den“ Jungen oder „das“ Jungenverhalten gibt es genausowenig wie „die“ Erzieherin. Dabei prägen die jeweiligen Rahmenbedingungen der Einrichtungen den pädagogischen Alltag und insbesondere das Verhalten von Jungen in entscheidendem Ausmaß.

Wenn problematisches Verhalten von Jungen auffällig wird, so liegt dem meist eine Vielfalt von Ursachen zugrunde: individuelle Defizite und familiäre Hintergründe einerseits, schwierige personelle und materielle Bedingungen in den Einrichtungen andererseits. Offensichtlich ist aber auch, daß Jungen auf solche Belastungen oft anders reagieren als Mädchen. Als ein wichtiges Ergebnis des Projekts kann deshalb die folgende These gelten: Problemverhalten von Jungen ist eine geschlechtstypische Reaktion auf schwierige und belastende Lebensbedingungen. Was als „schwieriges“ und insbesondere aggressives „Jungenverhalten“ auffällt, ist damit nicht etwas, was zwangsläufig mit der Entwicklung von Jungen zusammenhängt, sondern ein „Symptom“ schwieriger Entwicklungsverläufe, das insbesondere in ungünstigen Rahmenbedingungen zum Ausdruck kommt, die keine Ausweichmöglichkeiten bereitstellen.

Unter methodischen Gesichtspunkten sehen wir unsere Studie recht kritisch. Dennoch kann sie deutlich machen, wie wichtig geschlechtsbezogene Fragen bereits im Kindergarten sind. Die „Suche nach Männlichkeit“ ist als Erklärungsansatz für das Verhalten von Jungen im Kindergarten brauchbar. In dieser Lebenszeit liegen die Wurzeln von dem, was später als „typisches“ oder auch untypisches Verhalten von Jungen und Männern deutlich wird; hier ist es im Entstehen zu beobachten, und darum finde ich diesen Bereich sehr spannend.

Unsere Studie stieß auf ein für uns unerwartet großes öffentliches Interesse. Der umfangreiche Abschlußbericht war trotz eines Nachdrucks binnen kurzer Zeit vergriffen. Wir vermuten aber, daß das anhaltende Interesse eher auf die konkrete Praxis und die Möglichkeiten einer geschlechtsbezogenen Pädagogik gerichtet ist. Daher haben wir nun ein Handbuch zur Aus- und Fortbildung vorgelegt, das Theorien zur Entwicklung von Jungen und ihrer Situation im Kindergarten vorstellt und eine Vielfalt von Anstößen und Methoden zur pädagogischen Arbeit in Aus- und Fortbildung, für Fachberatung sowie für den Alltag in der Kindertagesstätte gibt. Die wesentlichen theoretischen Erkenntnisse und empirischen Ergebnisse des Forschungsprojekts wurden überarbeitet in das Handbuch mit aufgenommen.

 

Handbuch zur geschlechtsbezogenen Pädagogik in Kindertagesstätten

Unser Handbuch richtet sich in erster Linie an Frauen und Männer, die in der Ausbildung, Fortbildung und Fachberatung von Erzieherinnen und anderen sozialpädagogischen Fachkräften tätig sind. Es ist aber auch für Erzieherinnen und Erzieher sowie andere Fachleute interessant, die sich intensiver mit geschlechtsbezogenen Fragen befassen oder befassen wollen. Neben der Vermittlung von Wissen zu geschlechtsbezogener Entwicklung ist für uns die Beschäftigung mit dem eigenen Wahrnehmen und Erleben und der persönlichen Lebensgeschichte zentral.

Das Handbuch stellt eine nach dem Baukastenprinzip aufgebaute und somit vielfältig einsetzbare Materialsammlung zur geschlechtsbezogenen Entwicklung und Pädagogik bereit. Neben der umfassenden Darstellung von Forschungsergebnissen und theoretischen Erklärungsansätzen wird eine Vielzahl von Anregungen für die Praxis in Kindertagesstätten gegeben. 75 Praxisübungen unterstützen die Vermittlung und Bearbeitung der Themen im Rahmen von Aus- und Fortbildung. Anschließend an grundlegende Überlegungen zu geschlechtsbezogener Pädagogik im Kindergarten werden im Handbuch die folgenden vier Schritte dargestellt:

·      Bei sich selbst anfangen (Selbstreflexion und autobiographisches Arbeiten)

·      Mehr über Jungen wissen (Entwicklung und Sozialisation von Jungen)

·      Den Alltag bewußt gestalten (Spiel, Medien, Märchen, Konflikte…)

·      Neue Wege einschlagen (Ziele, Rahmenbedingungen, Projekte, Elternarbeit…).

Die Themen und Elemente eignen sich für:

·      verschiedene Arbeitsbereiche: Kindergarten, aber auch Krippe, Hort, offene Kinderarbeit, z.T. auch Grundschule und Heime; Institutionen der Fortbildung;

·      verschiedene Berufsgruppen: neben Erzieherinnen und Erziehern auch SozialarbeiterInnen, SozialpädagogInnen, LehrerInnen, PsychologInnen, TherapeutInnen und BeraterInnen im Bereich der psychosozialen Versorgung von Kindern und Jugendlichen;

·      verschiedene Veranstaltungsformen: Vorträge, Studientage, Fortbildungen, Arbeitsgruppen, Fachberatung usw.;

·      verschiedene Zielgruppen: reine Frauengruppen, geschlechtsgemischte Gruppen, reine Männergruppen;

·      verschiedene Themen: neben Jungen in Kindertagesstätten z.B. auch Themen wie Jungen und Mädchen, geschlechtsbezogene Erziehung, Umgang mit Konflikten und „Gewalt“, Medienpädagogik, Kindergarten als Lebensraum…

Wir beziehen uns zum einen auf die zwischenzeitlich umfangreichen Erfahrungen mit verschiedenen Formen berufsbezogener Fortbildung zu geschlechtsbezogenen Themen aus Literatur, Berichten von KollegInnen und unserer eigenen Arbeit. Zum anderen sind die im Rahmen des Forschungsprojekts „Manns-Bilder“ erarbeiteten theoretischen Grundlagen und die Auswertung von Beobachtungen und Befragungen Bestandteil des Handbuches.

Rohrmann, Tim & Thoma, Peter (1998): Jungen in Kindertagesstätten. Ein Handbuch zur geschlechtsbezogenen Pädagogik. Freiburg: Lambertus.

 

Männerfachkreis Geschlechtsbewußte Pädagogik in Kindertagesstätten und Grundschule

Inzwischen sind Jungen im Fortbildungsbereich zum Thema geworden – auch im Bereich Kindertagesstätten. Ein „Renner“ sind hier zudem Fortbildungen zur Gewaltthematik, in denen es im Grunde auch meist um Jungen geht. Das Bewußtsein für geschlechtsbezogene Fragen ist im Kitabereich allerdings noch sehr gering entwickelt. Wir halten es daher für wichtig, geschlechtsbezogene Fragen in der Aus- und Fortbildung von ErzieherInnen und LehrerInnen weit mehr als bisher zu berücksichtigen.

Obwohl das Interesse an Fortbildungen zu geschlechtsbezogenen Fragen wächst, sind die aktuellen Möglichkeiten angesichts knapper Kassen oft begrenzt. Wichtig ist daher zum einen, die Struktur des Fortbildungsmarktes zu kennen und Kontakte zu Fachberatungen, Trägern, Fortbildungsveranstaltern und Einrichtungen zu knüpfen. Neue Formen der Organisation und Kooperation sind insbesondere in Bezug auf Fortbildungen für männliche Mitarbeiter nötig, die (aufgrund der gerigen Anzahl der Mitarbeiter) im Rahmen des herkömmlichen Systems kaum realisierbar sind, da es nur wenig trägerübergreifende Anbieter gibt. In den letzten Jahren konnten wir Fortbildungen für männliche Mitarbeiter in mehreren Regionen Deutschlands durchführen.

1997 haben wir einen bundesweiten Arbeitskreis von Männern gegründet, die in der Ausbildung, Fortbildung und Fachberatung im Elementarbereich zu geschlechtsbezogenen Fragen tätig sind. Wir treffen uns einmal jährlich, um Fragen männlicher Entwicklung, der Situation von Jungen in Kindergarten und Schule, der Arbeit männlicher Fortbilder mit Frauen u.a. zu diskutieren. Wir vernetzen vorhandene Projekte und Initiativen, lernen voneinander, unterstützen die Professionalisierung in diesem Arbeitsbereich und tragen dazu bei, daß geschlechtsbezogene Fragen in Ausbildung und Alltag im Elementarbereich mehr aufgegriffen werden.

Autor & Kontakt:

Tim Rohrmann, Tuckermannstrasse 3, D-38118 Braunschweig, fon/fax 0531/504200

Männerfachkreis Geschlechtsbewußte Pädagogik in Kindertagesstätten und Grundschule, c/o Tim Rohrmann.

Bücher:

Rohrmann, Tim (1994): Junge, Junge – Mann, o Mann. Die Entwicklung zur Männlichkeit. Reinbek: Rowohlt. (Neuauflage in Vorbereitung).

Rohrmann, Tim & Thoma, Peter (1998): Jungen in Kindertagesstätten. Ein Handbuch zur geschlechtsbezogenen Pädagogik. Freiburg: Lambertus.

 


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