Männliche Opfererfahrungen

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Männliche Opfererfahrungen

 

Hans-Joachim Lenz (Hrsg.)
Männliche Opfererfahrungen
Problemlagen und Hilfeansätze in der Männerberatung.
Geschlechterforschung, hrsg. von L. Böhnisch, H. Funk und K. Lenz.

1999, 326 S., br. DM/sFr 39,80; öS 291,00
ISBN 3 7799 1364 X
Hans-Joachim Lenz

Beratung ist eine traditionelle Aufgabe von Sozialarbeit. Geschlechtsspezifische Beratungsangebote für Frauen gab es bereits in den 20er Jahren im Zusammenhang mit Ehe- und Sexualfragen. Ein ähnlich ausdifferenziertes Beratungsnetz für Männer gibt es bislang nicht. Dies liegt daran, daß das Männliche als das Normale gilt, daß Männer insgesamt bislang weniger Beratungsbedarf anmelden und daß die speziellen männlichen Problemlagen bislang von Beratungseinrichtungen überhaupt nicht bzw. zu wenig wahrgenommen werden. Dem spezifischen Beratungsbedarf von Männern liegen die Widersprüche, Ambivalenzen und Konfliktlagen eines Lebens als Mann zugrunde. Bislang verschwinden die männlichen Gewalterfahrungen hinter den Geschlechterklischees. Damit auch die Notlagen von Männern erkannt werden, müssen männliche Gewalterfahrungen als soziales Problem öffentlich gemacht werden. Die Perspektive dieses Bandes ist auf die blinden Flecken im gesellschaftlich-politischen Geschlechterdiskurs, in der allgemeinen psycho-sozialen Arbeit und speziell in der Beratung gerichtet. Sie zielt auf das Aufdecken wenig bekannter, teilweise verborgener männlicher Opfererfahrungen, versucht diese und deren Verdrängung im gesellschaftstheoretischen Kontext der Männergesellschaft zu verstehen und entwickelt Handlungsschritte daraus. Dadurch trägt es zu einem differenzierteren Verständnis von Männlichkeit bei. Erscheint: November 1999

 

Inhalt

Hans-Joachim Lenz Einleitung

 

Grundlegendes

Hans-Joachim Lenz " ... und wo bleibt die solidarische Kraft für die gedemütigten Geschlechtsgenossen?" Männer als Opfer von Gewalt - Hinführung zu einer (noch) verborgenen Problemstellung

Lothar Böhnisch Männer als Opfer - ein paradigmatischer Versuch

Erfahrungen und Problemlagen männlicher Opfer

Dirk Bange Pädosexualität ist sexueller Missbrauch

Reiner Blinkle Gewalterfahrungen eines "geistig behinderten" Mannes

Peter Dillig Gewalterfahrungen männlicher Klienten in einer ländlichen Eltern-, Jugend- und Familienberatungsstelle

Constance Engelfried Mit Widersprüchen leben lernen. Ergebnisse einer empirischen Studie über männliche Jugendliche in der Gruppe von Gleichaltrigen

Bastian Finke Schwule als Opfer von "häuslicher Gewalt"

Ralf Ruhl Väter - Opfer bei Trennung und Scheidung?

Ansätze zur Hilfe und Unterstützung

Ulfert Boehme Die Suche nach Hilfe. Zugänge zu geschlechtsspezifischen Hilfeangeboten für männliche Opfer sexueller Gewalt

 

REZENSION von Annemarie Schweighofer-Brauer, zum Buch:

Männliche Opfererfahrungen.

Problemlagen und Hilfeansätze in der Männerberatung
herausgegeben von Hans-Joachim LENZ
Juventa Verlag, Weinheim-München 2000

Männer als Opfer ... !?

Viele Männer wurden und werden Opfer - in ihrer Kindheit, in der Jugend und im Erwachsenenalter - von sexuellem Mißbrauch, von Gewalttätigkeit, von sexueller Gewalt, von Vernachlässigung und Mißachtung - durch Väter, Onkel, Lehrer, Erzieher, Betreuer, ältere Brüder oder Arbeitskollegen ... und auch durch Mütter, Tanten, Lehrerinnen, Erzieherinnen, Betreuerinnen ...
Der von Hans-Joachim Lenz herausgegebene Sammelband verfolgt das Anliegen, dies deutlich zu machen. Damit thematisiert er einen Bereich männlicher Erfahrung, den viele Menschen aus verschiedenen Gründen lieber nicht wahr haben wollen, negieren, wegschieben, leugnen. Eine Reihe dieser Gründe wird in diesem Buch dargelegt.

Männliche Opfererfahrungen sind für Männer unerträglich, weil sie auf das eigene Opfersein aufmerksam machen. Opfersein widerspricht dominanten männlichen Geschlechterrollen, der Sozialisation zu Stärke, Härte und Durchsetzungsvermögen. Männliche Opfererfahrungen erinnern aber auch an das eigene Täter sein, so Jochen Peichl in seinem Artikel zu Rollenklischees und Wahrnehmungsblockaden aus der Sicht eines Psychoanalytikers. Was nicht sein darf, gibt es nicht. Und in Folge dessen quälen sich mißbrauchte, vergewaltigte, geschlagene Männer durch Krankenhäuser, Psychiatrien und Beratungseinrichtungen, ohne jemals als Opfer wahrgenommen zu werden. Ihre "auffälligen Verhaltensweisen" und Krankheiten werden psychiatrisch und medizinisch kategorisiert und dementsprechend behandelt. Diverse Artikel im Buch beschreiben diesen Mißstand. an.?

Frauen scheinen eher geneigt zu sein, männliche Opfererfahrungen ernst zu nehmen und auf sie einzugehen, aber auch bei ihnen bewirkt die Konfrontation damit häufig Hilflosigkeit und Unverständnis. Vor allem Frauen, die mit weiblichen Opfern arbeiten, fällt es schwer, sich auf das männliche Opfer sein Sein einzulassen, aus der Befürchtung heraus, dass damit Täterschaft entschuldigt werden könnte.
Aus einigen Artikeln höre ich Aversionen gegen "Feministinnen" heraus, die mit Abwehr und Aggression reagieren würden. Mit solchen Verallgemeinerungen werden meiner Ansicht nach unnötige Fronten aufgebaut, die der Sache nicht dienen. Dass es Frauen, die Opfer von Gewalttätigkeiten, Mißbrauch, Belästigung oder Diskriminierung durch Männer geworden sind und werden, - und dass betrifft vermutlich fast alle Frauen in unterschiedlichem Ausmaß - schwer fällt, sich unbelastet auf das Thema einzulassen, finde ich verständlich. Um so mehr trifft dies auf Frauen zu, die in Frauenhäusern, Notrufstellen und ähnlichen Einrichtungen arbeiten und tagtäglich Feuerwehr spielen müssen.

Als Hintergrund der Gewaltproblematik benennen mehrere Autoren im Buch die patriarchal-kapitalistische Gesellschaftsform. Weibliche Mittäterinnenschaft bei deren Reproduktion und Aufrechterhaltung wird in feministischen Theorien und Analysen seit den 80er Jahren reflektiert und kritisiert: Frauen werden gegen Frauen zu Täterinnen, in Kolonial- und Klassenverhältnissen, sie wurden zu Täterinnen im Nationalsozialismus und in anderen totalitären GesellschaftenSystemen. Allerdings, so der Tenor einiger Autoren des Buches, ist kaum die Rede von weiblicher Täterschaft gegenüber Söhnen, Neffen oder gar Ehemännern. Psychischer Mißbrauch wird ab und zu angeprangert, den in patriarchalen Verhältnissen emotional verkrüppelte Mütter mit ihren Söhnen betreiben, wird ab und zu angeprangert wie - z.B. von der Mutter, die nach der Scheidung Trost beim Sohn sucht. Sexueller Mißbrauch von Frauen an Jungen und Männern ist hingegen kaum vorstellbar und Frauen, die ihre Männer schlagen, kann es gar nicht geben.
Bei diesen Diskussionen sollte meiner Ansicht nach große Umsicht walten, da die Schuld der Mütter an jeglichem Mißstand andererseits auch wieder ein weit verbreitetes Erklärungsmuster und Klischee darstellt.
Allerdings trägt gGerade dieses Klischee meiner Ansicht nachträgt dazu bei - sowohl im Hausgebrauch als auch im gelehrten Diskurs -, eine ernstgemeinte Beschäftigung mit den Opfererfahrungen konkreter Jungen und Männer durch Frauen als Täterinnen zu verhindern. Die im Buch dargebrachten Fallbeispiele machen mich betroffen, bewirken bei mir Abwehrreaktionen - wenn es um weibliche Täterschaftinnen geht, ist auch meine Ungläubigkeit wie bei vielen Menschen offenbar zäher.

Immer wieder klingt in den Artikeln die Frage nach dem Zusammenhang von Opfer- und Tätersein an. Es wird betont, dass ein großer Teil der Opfer nicht zu Tätern wird, dass Männer vielmehr unterschiedliche Umgangsweisen entwickeln, um mit ihrer Opfererfahrung zu überleben. Oft überleben sie mehr recht als schlecht. Lange Zeit nach den Mißbrauchs- und Gewalterfahrungen gerät ihr Leben aus den Fugen.
Das Präventionsargument, das politisch motivierte Subventionsgeber (für Hilfseinrichtungen ...) so sehr lieben - "Wir unterstützen die Opfer, damit sie nicht zu Tätern werden!" - tut den Opfern unrecht, die damit gleichzeitig das Stigma des (potentiellen) Täters zu tragen haben und zu Opfern dieser Zuschreibung werden.

Im Buch schreiben Mitarbeiter von Hilfseinrichtungen und Initiativen, Psychologen sowie Männer und eine Frau, die Forschungen durchführten. Da die Zahl der Hilfseinrichtungen, die sich männlicher Opfererfahrung stellen, nicht allzu hoch ist, bietet das Buch einen guten Überblick über die Situation in Deutschland und streift auch die Schweiz.

Im ersten Teil erfolgt eine grundlegende Darstellung des Umfanges des Themas - der Diskussions- und Erkenntnislinien.
Im zweiten Teil folgen Artikel zu "Erfahrungen und Problemlagen männlicher Opfer". Hier wird das Feld ausgelotet, in dem sich männliche Opfererfahrungen abspielen. So werden beispielsweise Pädosexualität, Gewalt gegen "geistig behinderte" Menschen oder Väter als Opfer bei Trennung oder Scheidung behandelt.
Daran anschließend stellen Hilfs- und Unterstützungseinrichtungen ihre Arbeit vor. Verschiedene Arbeitsansätze und -methoden erfahren eine gut nachvollziehbare und aufschlußreiche Darstellung.
Im letzten Teil des Buches werden die Barrieren und Verdrängungen erörtert, die die Wahrnehmung männlicher Opfer erschweren oder verhindern.

Für alle, die beruflich mit männlicher Opfererfahrung konfrontiert sind, wird dieses Buch eine gute Unterstützung sein. Wer bereit ist, sich auf eine Sensibilisierung in diese Richtung einzulassen, kann sich von den Beiträgen darin leiten und begleiten lassen.

Autorin dieser Rezension:
Annemarie SCHWEIGHOFER-BRAUER, 
Dezember 2000

 


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